Jan Schneidereit
Die Rosen von Hostre
Die letzten Einwohner einer ostukrainischen Geisterstadt kämpfen ums überleben. Das neue Dorfzentrum ist ein ausgebauter Keller. Über ihren Köpfen tobt der Krieg. Wie lebt es sich an einem Ort, nach dem nur noch die Front kommt?
Je näher man der Kontaktlinie im Donbas kommt, desto weniger Autos teilen sich die staubige Straße Richtung Osten. Bis man irgendwann komplett allein ist. Ein verwaister Checkpoint am Ortseingang von Hostre, aus dessen aufgeplatzten Sandsäcken inzwischen zarte Gräser wachsen, steht einsam und verlassen in der heißen Junisonne. Die Botschaft ist klar: Hier gibt es nichts mehr zu bewachen.
Nur die gepflegten Rosengärten vor den Hauseingängen weisen noch auf die Anwesenheit von Menschen hin. Ohne jemanden, der sich um sie kümmert, wären sie bei der seit Wochen anhaltenden Sommerhitze im Donbas längst vertrocknet. Ansonsten steht das kleine Dorf einer Geisterstadt in nichts nach: Der Dachstuhl einer alten Postfiliale klafft offen wie eine große Wunde dem Himmel entgegen, die Fenster der meisten Häuser sind zerbrochen. Selbst die für die Ukraine so typischen streunenden Hunde und Katzen fehlen. Bis auf das dumpfe Grollen der Artilleriegefechte in der Ferne ist es absolut still. Hier lebt Ira.
„Früher haben etwa 600 Menschen hier gewohnt“, erzählt sie, das war aber noch vor dem Beginn der großangelegten russischen Invasion im Februar des vergangenen Jahres. „Jetzt sind es nur noch 130.“ Ira ist 60 Jahre alt und hat ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Anfang 2022 arbeitete sie noch im Bahnhof der Stadt für die staatliche Eisenbahngesellschaft. Als die Züge wegen des Kriegs nicht mehr kamen, verlor sie ihre Stelle. Seitdem verbringen sie und ihr Mann, wie die meisten der verbliebenen Dorfbewohner, ihre Tage im ausgebauten Keller.
Hier unten ist es gemütlich eingerichtet. Alle Betten sind ordentlich gemacht, an den Wänden hängen alte Teppiche, Ikonen und ein gemaltes Bild, das einen Fluss und eine Waldlichtung zeigt: Man hat sich angepasst.
Hostre ist eine Siedlung „städtischen Typs“, eine Kategorie, die nach der sowjetischen Städtebaupolitik die Lücke zwischen Dorfgemeinschaft und Stadt schließen sollte. Hier stehen solide mehrstöckige Wohnhäuser und ein paar repräsentative Gebäude. Doch die Straßen sind leer, das Leben findet jetzt zum Großteil unterirdisch statt.
Mit 25 anderen Dorfbewohnern verbringt Ira seit September letzten Jahres ihren Alltag im Keller. Zuvor waren sie nur abends zum Schlafen hierhergekommen. Das änderte sich jedoch, als ein russischer Angriff mit Streumunition das Haus traf, in dem sie und ihr Mann lebten. Als der Beschuss einsetzte, stand Ira gerade im Garten vor dem Haus. Ihr Mann Olexij, der das Haus kurz verlassen hatte, eilte daraufhin sofort zu ihr zurück. Auf dem Weg zu ihr bemerkte er die übriggebliebenen Kassetten, mit denen die Sprengsätze verteilt werden. „Es ist ein Wunder, dass niemand die berührt hat“, erinnert er sich. Die Submunition, also das, was verstreut werden soll, neigt dazu, beim Aufschlag nicht sofort zu explodieren. Lange Zeit nach dem Abwurf kann es so immer noch zu tödlichen Unfällen kommen. Ein Problem, das die Menschen in der Ukraine bereits jetzt, aber auch noch Jahre nach einem Kriegsende beschäftigen wird. Bei einem ähnlichen Angriff auf Hostre starb im Frühling des selben Jahres eine Frau, eine weitere wurde schwer verletzt.
Olexij entschied daraufhin, dass es sicherer sei, permanent in den zum Bunker ausgebauten Keller einige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt zu ziehen. Dort verbringen die beiden jetzt jeden Tag. Nach dem Aufstehen wäscht sich Ira zuerst das Gesicht, dann bereitet sie das Frühstück für sie beide vor, wäscht die Wäsche und schaut Fernsehen. Olexij kümmert sich dann um die Beschaffung von Lebensmitteln und Wasser. Manchmal gehen sie nach oben, um frische Luft zu schnappen oder die Blumen zu gießen, ansonsten bleiben sie unter der Erde.
Sie teilen sich das geräumige Untergeschoss mit Varia, die sich mit „Babuschka“, also Großmutter vorstellt. In russischsprachigen Regionen werden alte Frauen liebevoll so genannt. Sie ist 81 Jahre alt. Varia hat ebenfalls ihr ganzes Leben in der Gegend verbracht. Die alte Frau trägt ein weißes Kopftuch mit fliederfarbenen Verzierungen und gibt mit ihren weichen, faltigen Händen einen festen, aber freundlichen Händedruck. Sie erzählt, dass sie in ihrem Leben viele Sprachen lernen musste. Sie spricht ukrainisch, aber auch russisch und auch ein wenig deutsch. Aus einem angrenzenden Raum, dessen Tür nur angelehnt ist, ist lautes Schnarchen zu vernehmen. Varia und Ira müssen schmunzeln. Auch wenn es hier in dem Schutzraum alles gibt, was man zum Überleben braucht, es bleibt eine Dorfgemeinschaft, die zur Notgemeinschaft geworden ist, und das merkt man.
Seit einem Jahr gibt es kein Trinkwasser mehr. Sie sind daher auf Wasserlieferungen von außen angewiesen. Regelmäßig kommen Soldaten in Lastwägen vorbei und verteilen es kanisterweise an die verbliebenen Dorfbewohner.
Lebensmittel werden von freiwilligen Helfern in die umliegenden Dörfer gebracht. Bis nach Hostre kommen sie selten, es ist zu gefährlich. Im Juni kamen sie nur einmal. Wenn die Hilfe ausbleibt, ziehen die restlichen Bewohner des Dorfes mit dem Einkaufstrolley oder der Schubkarre los. Zu Fuß sind es etwa vier Kilometer bis nach Kurachiwka, wo die Versorgungslage besser ist. Die einzige Straße, die dort hinführt, wird regelmäßig beschossen. Olexij nimmt für die Strecke sein Fahrrad. Nicht weil es bequemer ist, sondern weil es mit dem Auto riskant wäre. Autos erzeugen mehr Aufmerksamkeit als ein Fußgänger oder Fahrradfahrer und sind potenzielle Ziele. Außerdem sind keine Autos mehr in der kleinen Siedlung, wer eines hatte, ist geflohen. Der östliche Rand von Hostre wird fast täglich angegriffen, obwohl das ukrainische Militär schon vor längerer Zeit vollständig abgezogen ist, was Ira mit einem Schulterzucken kommentiert.
Ira, Olexij und Babuschka Varia haben sich an den Lärm der Gefechte und die permanente Bedrohung durch Raketen und Artillerie gewöhnt, wie sie sagen. Sicher ist es hier trotzdem nicht. Gut zehn Kilometer von Hostre entfernt liegt Marjinka, eine Stadt, die durch ihre vollständige Zerstörung ähnlich fragwürdigen Ruhm erlangte wie das nordöstlich von hier gelegene Bachmut.
Am frühen Nachmittag verlässt Olexij den Bunker und steigt auf sein tannengrünes Fahrrad. Er will in die Wohnung, die sie vor fast einem Jahr verlassen haben und nach dem Rechten sehen. Das Mehrparteienhaus grenzt an den inzwischen verwitterten Dorfplatz. Etwas abseits geht ein blau und gelb lackierter Trimm-dich-Pfad langsam im hoch gewachsenen Gras unter. Daneben steht ihr altes Zuhause. Das Dach ist offen, die Fenster zerborsten, und in einem Riss in der Fassade nistet eine Bienenkolonie. In ihrem Wohnzimmer ist an einer Stelle die mit weißen Orchideen verzierte Tapete aufgerissen und das Mauerwerk zu sehen. Den Nachbarn hat es schlimmer getroffen.
Vor einer Woche wurde ihr Dorf wieder beschossen, dabei wurde eine alte Frau so schwer verletzt, dass sie nach Dnipro evakuiert werden musste, um entsprechend behandelt werden zu können – 180 Kilometer von Hostre entfernt.
Zurück im Bunker sitzt Ira wieder vor dem Fernseher, es läuft eine Kochshow. Von der ukrainischen Sommeroffensive ist hier unten nichts zu merken. „Das soll einfach aufhören. Luhansk und Donezk gehörten zur Ukraine. Natürlich wünsche ich mir, dass die beiden Gebiete eines Tages wieder ukrainisch sind“, sagt Ira. Sie hält inne und überlegt lange, bis sie wieder ansetzt: „Wir sind kleine Leute. Wir können nur warten, bis es vorbei ist.“
Vor dem Krieg sind Ira und Olexij, wie viele andere aus dem Dorf, in den „Club“ gegangen, erzählt sie. Der Club ist eines der größeren Gebäude der Siedlung. Der Eingang ist mit sechs hohen Säulen verziert, die Fensterscheiben zerstört und das Dach stellenweise aufgerissen. Kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Früher gingen sie dort hin um zu tanzen und zu trinken. Jetzt steht das Gebäude leer. Auf die Frage, was sie jetzt machen, um Spaß zu haben, antwortet Ira knapp: „Manchmal kommt ein Priester.“
Wie lange Ira und die anderen hier noch unterirdisch ausharren müssen, ist unklar. Die erhofften Erfolge der ukrainischen Armee blieben bisher aus. Fest steht aber, dass die Front sich langsam auf sie zubewegt und niemand wissen kann, ob Hostre nicht auch zum Synonym für den Krieg werden wird. So wie Mariupol, Bachmut oder Marjinka zuvor.
Auf dem Fernseher, der jetzt Iras Hauptbeschäftigung ist, steht ein frischer Strauß Rosen aus einem der Gärten von Hostre.
Text & Bilder: Jan Schneidereit