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Jan Schneidereit

Statistisch gesehen nehmen sich in Deutschland jeden Tag 28 Menschen das Leben. Jede dieser Personen hat ihre eigene Geschichte, ist einen langen Leidensweg gegangen. Niemand begeht leichtfertig Selbstmord. „Anruf heißt ja immer: Da ist noch irgendwas“, sagt Maria Osinski-Ebel. Die 75 Jahre alte Frau sitzt im Gemeinschaftsraum einer Seniorenwohngemeinschaft auf dem Sofa und schaut nachdenklich aus dem Fenster. „Es bedeutet nicht immer, dass man nicht mehr leben will, sondern vielleicht: Ich will so nicht mehr leben“, fügt sie hinzu. Maria Osinski-Ebel weiß, wovon sie spricht: Depression, schwierige Lebenssituationen und Einsamkeit sind Teil ihres Ehrenamts. Sie ist eine von fast 8000 Telefonseelsorgern in der Bundesrepublik. Keine leichte Aufgabe. Kein normales Ehrenamt.

Seit Mitte der 1950er Jahre können Menschen in Deutschland dieses niedrigschwellige Angebot nutzen. Anonym und kostenfrei. Seit mehreren Jahren ist die Telefonseelsorge nicht mehr nur telefonisch zu erreichen, sondern auch per E-Mail oder Chat. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens gingen während der Corona-Pandemie mit einer massiven Abnahme sozialer Kontakte einher. Mit den leeren Straßen kam die Einsamkeit in viele Haushalte. Ende Mai dieses Jahres wurde das „Einsamkeitsbarometer“ des Familienministeriums veröffentlicht. Die Daten machten deutlich, dass die gefühlte Einsamkeit immer noch höher ist, als vor der Pandemie. Deshalb sind Angebote wie die Telefonseelsorge so wichtig und gefragt: Nur jeder zehnte Anrufer kommt durch und nicht immer ist von vornherein klar, was ihn bedrückt.

Vor einiger Zeit erreicht eine Frau Maria Osinski-Ebel am Telefon und erzählt ihr, dass sie krankgeschrieben sei. Es gehe ihr nicht gut. Im Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, dass ihr nicht die Krankheit zu schaffen macht, sondern die Leere daheim. „Ich habe vorher nicht gedacht, dass es so viel Einsamkeit gibt. Das war mir nicht klar“, sagt Maria. „Auch bei Menschen, die Familie haben.“

„Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Phänomen, das uns schon lange begleitet. Spätestens seit wir von Individualisierungen, Verstädterung und ähnlichen Phänomenen sprechen“, sagt die Soziologin Marie-Kristin Döbler dazu. Es gibt Lebenslagen und Vorraussetzungen, die eine Vereinsamung wahrscheinlicher machen: Das Geschlecht zum Beispiel. Frauen sind laut Einsamkeitsbarometer 2024 im Durchschnitt häufiger einsam als Männer. Zum einen, da sie noch immer mehr Care-Arbeit übernehmen und damit in der häuslichen Sphäre verbleiben. Zum anderen, da Frauen offener über ihre Gefühle sprechen und damit eher Hilfe in Anspruch nehmen, was sie statistisch erfassbarer macht. Die Kehrseite davon ist: Männer begehen häufiger Selbstmord. Abseits von Geschlecht können Armut, Krankheiten und Migrationsgeschichte ebenfalls eine Rolle spielen. Es sind Risikofaktoren. Einsam sein kann schlussendlich aber jeder und nicht immer trifft es nur ältere Menschen. Mittlerweile sind sogar die Jüngeren stärker betroffen.

Im Dachgeschoss eines unscheinbaren Hauses am Rande von Hannover liegt der Arbeitsplatz von Susanne Roth. Durch die großen Fenster scheint immer wieder die Sonne auf den grauen Teppichboden. In dem Büro stehen ein Schreibtisch, Sitzgelegenheiten und ein Bücherregal: Bibeln, Gesangsbücher und psychologische Fachliteratur reihen sich aneinander. Es ist die Dienststelle der Telefonseelsorge Hannover. Seit 2022 ist Susanne ausgebildete Telefonseelsorgerin. Eigentlich arbeitet die Mittvierzigerin als Selbstständige im Personalmanagement und ist Mutter von drei Kindern. „Ich habe während der Pandemie festgestellt, dass wir zusammenrücken müssen“, erinnert sie sich. Was Susanne Roth von vielen anderen Ehrenamtlichen unterscheidet, ist ihr Alter und ihre Berufstätigkeit. Als 2020 das dritte Kind kam, musste Veränderung her. Sie reduzierte ihre Arbeitszeit. Allerdings fiel es ihr schwer, die dazugewonnene Zeit für sich zu nutzen. Engagement ist ihr wichtig. Die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die Krisen der letzten Jahre machten ihr deutlich, dass „wir als einzelne Individuen eigentlich nicht klar kommen können“, erzählt sie. „Jeder muss irgendwie seinen Beitrag leisten. Der eine macht das finanziell und spendet vielleicht. Ich dachte mir: Ich gebe jetzt mal Zeit. Das hatte ich noch nie gemacht.“ Sie entschied sich für die Arbeit als Telefonseelsorgerin.

Die Ausbildung dauert anderthalb Jahre, sie ist intensiv. Danach verpflichtet man sich für mindestens ein Jahr zur Arbeit in der Telefonseelsorge. Ungefähr zwölf Stunden im Monat, auch Nachtschichten. Diese sind besonders wichtig. Denn wenn Ruhe eingekehrt ist, sind die Menschen mit ihren Gedanken und Ängsten häufig allein.

Es ist spät, als Susannes Telefon wieder klingelt. Sie sitzt in der Dienststelle, draußen ist es dunkel. Auch wenn jedes Gespräch so individuell ist wie die Menschen, die anrufen, wiederholen sich die Themen häufig. Was Susanne noch nicht weiß: Dieses Telefonat wird für sie anders sein, als die bisherigen. Das Gespräch läuft gut, wie sie sagt. Schnell kommt ihr Gegenüber zur Sache: Es geht um Selbstmordgedanken. Es ist nicht das erste Gespräch, das Susanne dazu führt, und sie haben einen guten Austausch darüber, erinnert sie sich. Das Gespräch neigt sich dem Ende, als ihr Gegenüber plötzlich fragt: „Würden Sie mich denn verurteilen, wenn ich es jetzt gleich mache?“

Im Jahr 2022 führte die Telefonseelsorge über eine Million Seelsorge- und Beratungsgespräche. Hinzu kommen fast 75 000 Mailwechsel und Chats. Etwa acht Prozent der Telefonate handelten von Gedanken an Suizid.

„Nein, ich würde Sie dafür nicht verurteilen“, antwortet Susanne. Sie äußert Verständnis für die Sorgen und Probleme, die ihr geschildert wurden, und die Person am anderen Ende der Leitung bricht in Tränen aus. „Endlich versteht mich mal jemand“, dann legt die Person auf. Dieses Gespräch wird Susanne wochenlang nicht loslassen. „Scheiße“, sagt sie, „hast du da die Absolution erteilt? Hast du da jetzt gerade gesagt: ‚Mach!‘?“ Susanne spricht ihre Gefühle in ihrer Supervisionsgruppe an, die alle zwei Wochen stattfindet.

„Die Person hatte sich noch bei mir bedankt. Das Traurige, was ich auch aushalten muss, ist, dass ich nie weiß, ob sie es am Ende gemacht hat oder nicht“, fügt Susanne hinzu. Um diese Arbeit auszuüben, muss man das aushalten können, sagt sie. Hier liegt für sie die größte Belastung in diesem Ehrenamt.

„Man muss Verzweiflung aushalten können“, sagt auch Maria Osinski-Ebel. „Ich glaube, dass ‚da sein‘ oder dabei sein, Beistand, etwas Wichtiges ist. Wir brauchen andere Menschen.“ Draußen vor ihrem Fenster nimmt der Verkehr zu. Sie lebt an einer Hauptstraße in der Innenstadt von Hannover. Wenn sie abschalten will, geht sie ins Theater oder fährt mit ihrem Fahrrad an der Ihme entlang.

Bisher musste Maria noch kein Gespräch mit einer suizidgefährdeten Person führen. „Aber jedes mal, wenn ich mit einer Sitzung beginne, gucke ich mir nochmal den Verlaufsplan an. Denn das ist das, wo ich am meisten Sorge hätte, etwas falsch zu machen“, sagt sie.

Wenn sich jemand meldet, der akut selbstmordgefährdet ist, darf die Telefonseelsorge einschreiten und beispielsweise den Rettungsdienst verständigen. Allerdings nur mit dem ausdrücklichen Einverständnis der betroffenen Person, erklärt sie.
 
Suizid und Depressionen sind immer noch Tabuthemen. Als Anfang Mai Gesundheitsminister Karl Lauterbach die erste „Nationale Suizidpräventionsstrategie“ vorstellt, beginnt er seine Präsentation wie folgt: „10 000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Das sind Tragödien.“ Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention geht von ungefähr 100 000 Suizidversuchen pro Jahr aus. Genaue Zahlen gibt es dazu nicht, denn häufig schweigen Betroffene.

Oft ist die Telefonseelsorge eine erste Adresse für Betroffene von Einsamkeit, aber auch für psychisch erkrankte Menschen. Im Schnitt muss man in Deutschland fünf Monate auf einen Therapieplatz warten. Eine lange Zeit, wie Maria findet. „Ich bin kein Therapeut, kein Arzt, ich bin ein Laie. Einfach jemand, der vielleicht mal zuhört und Beistand leisten kann. Und mehr kann ich nicht tun“, erklärt Maria. Trotzdem kann sie helfen. „Ich weise hin. Auf andere, spezielle Beratungsangebote und ich gebe auch dem Gedanken Form, dass es vielleicht gut wäre, sich professionelle Hilfe zu holen an bestimmten Stellen“, ergänzt sie.

Auf einem Aussichtspunkt im sächsischen Spaargebirge steht ein Findling. Nichts ungewöhnliches für einen Berg, ein großer Stein eben. Doch auf einer an ihm befestigten Platte steht in großen Lettern: „Dein Leben ist so wertvoll! Es gibt einen anderen Weg für Dich!“ Daneben die Nummer der Telefonseelsorge.

Fühlen Sie sich einsam? Haben Sie Selbstmordgedanken? Sie sind nicht allein. Es gibt Hilfsangebote: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/1110111 und 0800/1110222 erreichbar. Es gibt auch die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung oder eines Hilfe-Chats. 

Text & Bilder: Jan Schneidereit

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Wir hören uns

Deutschland ist einsam.

Mit wem also sprechen, wenn man niemanden zum Reden hat?

Zwei Telefonseelsorgerinnen berichten aus ihrem Alltag.

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