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Jan Schneidereit

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Die Lichter keiner Stadt

Die Großstadt Donezk liegt in Sichtweite.

Der Alltag einer Mörsereinheit, bei der von einer Sommeroffensive nicht viel zu merken ist. Ein Kontrastprogramm aus Langeweile und Feuergefechten.

Auf einer einsamen Hügelkuppe zwischen abgemähten Äckern und den Hochkippen umliegender Steinkohlezechen hält ein dunkelgrauer Pick-up in einer Staubwolke. Der Mann, der aussteigt, trägt eine sportliche Sonnenbrille und ein khakifarbenes Shirt zur Flecktarnhose. „Da hinten ist der Flughafen von Donezk“, sagt er und deutet mit ausgestrecktem Arm auf einen schmalen Strich am Horizont.

Hier hatten 2014 die ersten schwereren Kampfhandlungen zwischen der ukrainischen Armee und  pro-russischen Separatisten stattgefunden. Dabei wurde das Gelände vollständig zerstört, bis es 2015 endgültig in die Hände der Separatisten fiel. Der zerstörte Tower ist ein Symbol für die zweite Phase des Krieges gegen die Ukraine nach der Annexion der Krim. Mit der Invasion im Februar 2022 begann die dritte.

„Nachts kann man die Lichter der Stadt sehen, das können wir euch später noch zeigen, wenn ihr länger bleibt“, ergänzt er. Dann geht es weiter Richtung Donezk.

Koba ist 28 und stammt aus einer Kleinstadt südlich von Kyjiw. Dort arbeitete er als selbstständiger Übersetzer in einem „Nine-to-Five“-Rhythmus, bis er in den frühen Morgenstunden des 24. Februars 2022 von lauten Explosionen geweckt wurde. Sie markierten den plötzlichen Übergang in sein neues Leben: Kurze Zeit später fand er sich als Soldat an der Front wieder. Heute wird sein Alltag vom Rhythmus der Artillerie-Duelle im Donbas bestimmt, wo er Teil einer fünfköpfigen Mörsereinheit ist.

In der zwischen dichten Büschen versteckten Stellung verbringen Koba und seine Kameraden in der Regel die beste Zeit des Tages unter der Erde. Obwohl hier fünf Männer auf engstem Raum zusammenleben, riecht es wohltuend nach Wald und ist es angenehm kühl. Die mit Kiefernholz verkleideten Innenwände und Stützbalken harzen immer noch aus.

Kommandant der Gruppe ist „Mossad“, ein gelernter Schweißer mit hellgrauen Augen und wachem Blick. Seinen Kampfnamen verdankt er dem Umstand, dass er vor dem Krieg einige Zeit in Israel auf Baustellen gearbeitet hat. Er hält die bunt gemischte Gruppe zusammen. Sie alle haben unterschiedliche Hintergründe, keiner von ihnen ist Berufssoldat. Der älteste war Seemann auf einem Containerschiff, einer der jüngeren arbeitete als Veranstaltungsansager auf Hochzeiten und Firmenfeiern. Jetzt sind sie hier, hunderte Kilometer von ihren Heimatorten entfernt. „Manchmal gibt es tage- oder wochenlang nichts zu tun. Dann verbringt man die Zeit am besten mit Schlafen, Rauchen, Essen, Lesen, am Handy Spielen - oder Masturbieren“, sagt Koba lachend. Abgesehen vom Krieg ist die Langeweile eines ihrer größten Probleme.

Verhüllt unter einem Tarnnetz wartet oberirdisch ihr Arbeitsgerät auf seinen Einsatz: Ein Mörser. Wie ein grünes Gespenst steht die gut 350 Kilogramm schwere Waffe neben Munitionskisten die vom dichten Blätterdach der Robinien verdeckt werden. Der Mörser kommt aus Finnland und ist bereits veraltet. Dort wurde er lediglich zu Ausbildungszwecken verwendet und war nicht dafür bestimmt, jemals in den Krieg zu ziehen. Koba steckt sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug, dann führt er weiter aus: „In Mykolaiv haben wir täglich fast hundert Granaten verfeuert. Es kommt auf die Lage an, aber aktuell sind es sechs bis zehn pro Tag. Manchmal feuern wir auch nur eine oder zwei in der Woche ab.“

Ein finnischer Mörser in der Ostukraine ist nichts Ungewöhnliches, aber manchmal kompliziert. Die Vielzahl der ausländischen Waffensysteme, die in der Ukraine seit 2022 Verwendung finden, stellen die  kleine Mörsertruppe vor Probleme, die kreative Lösungen erfordern. Vor einiger Zeit erhielten sie eine Charge US-Amerikanischer Granaten, „die waren so neu, dass man noch die Farbe riechen konnte“, allerdings explodierten diese beim Aufschlagen nicht. Nach einigen erfolglosen Versuchen trennten sie kurzerhand die amerikanischen Zünder ab und ersetzten sie durch alte sowjetische, das funktionierte. Jetzt benutzen sie spanische Granaten.

Heute ist die Situation anders, nicht so schnelllebig, festgefahrener. Mossad verteilt Plastikbecher mit heißem Kaffee und steigt in das Gespräch ein: „Vielleicht sind in den letzten Wochen mehr Soldaten aus dem Süden hierher verlegt worden, auf jeden Fall sind die Russen in letzter Zeit sehr aktiv.“ Über Funk kommt die Nachricht, dass es heute Abend wieder einen ukrainischen Angriff auf eine strategisch wichtige Kreuzung geben soll.

Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein selbst gekaufter Starlink-Empfänger, der ihnen eine stabile Internetverbindung ermöglicht. Ebenfalls mit einem Tarnnetz überzogen steht das stylische Gerät in einer Kuhle vor der Stellung und wirkt etwas deplatziert. Ohne diese digitale Nabelschnur wären sie längst eingegangen. „Erst kommt die Familie, dann das Land“, ergänzt Koba ernst und zeigt ein Familienfoto auf seinem Handy. Darauf ist sein zwölfjähriger Sohn zu sehen, der gerade einen Thaiboxkampf gewonnen hat. Nach den militärischen Erfolgen im vergangenen Jahr hatte ihre Einheit nur drei Tage Zeit, ihre Sachen zu packen und sich in den Donbas zu begeben. Niemand bekam die Möglichkeit, die eigene Familie zu besuchen, die keiner von ihnen seit einem Jahr zu Gesicht bekommen hat.

Es ist früher Nachmittag und Dima, der Seemann, sitzt oberkörperfrei auf einem der Betten im Bunker und überwacht eine Pfanne, in der Fleisch brutzelt. Auf seiner Brust ist ein Hai tätowiert und auf seinem linken Oberarm prangt die Darstellung eines grimmig dreinblickenden Kosaken mit zwei gekreuzten Schwertern. Auf die Frage, ob er einer dieser in der modernen ukrainischen Geschichtsschreibung so beliebten „freien Männer“ sei, antwortet er trocken: „Hier sind wir alle Kosaken.“

Das Essen bei dieser Einheit ist besser als bei den Soldaten, die in den Schützengräben ausharren müssen. Die Mörserleute sind zwar grundsätzlich mobil, bleiben aber angesichts der festgefahrenen Situation stationär in ihrem Frontabschnitt. Deshalb sind sie nicht auf die konservierte Verpflegung angewiesen, die sonst aus Plastiktüten und Tassen verzehrt wird. Sie können, wenn es gerade ruhiger ist, jemanden mit dem Pick-up losschicken, um in den nahegelegenen Dörfern frische Zutaten und Vorräte einzukaufen. Kochen ist hier auch Ablenkung.

Auf der anderen Seite eines Hügels knallt es, gefolgt vom lauten Motorengeräusch eines schweren Fahrzeugs. „Da drüben arbeitet einer unserer Panzer.“ Viel sehen kann man von hier aus nicht, nur eine Staubwolke, aus der manchmal ein Kanonenrohr hervorblitzt, zeugt von dem Ungetüm gut 300 Meter von hier entfernt. Das geht den ganzen Tag schon so, um den Gegner „auf Trab zu halten“, wie Mossad sagt. Das Kettenfahrzeug fährt mehrere Straßen ab, um dann das Feuer grob in die Richtung der russischen Soldaten zu eröffnen. Die dort eingegrabenen Einheiten sollen so „nicht auf dumme Gedanken kommen“. Das dumpfe Knallen und das sporadische Gewehrfeuer mischen sich über den Tag in die idyllische Geräuschkulisse des Donbas, die vor allem vom Zwitschern der Vögel, Surren der Libellen und den rauschenden Kronen junger Bäume bestimmt wird. Je näher der Abend kommt, desto kürzer werden die Abstände der Explosionen und Gewehrsalven. Bei Sonnenuntergang wird gekämpft.

Über Funk kommen jetzt Zielkoordinaten und die fünfköpfige Gruppe verwandelt sich von einem versprengten Haufen in eine durchorganisierte Mannschaft. Durch einen kniehohen Graben geht es im Laufschritt weg vom Bunker in die Feuerstellung. Der Winkel des Mörsers wird mit einem Visier und einem Notizblock bestimmt und eingestellt. Jeder Einsatz ist mit einer Rechenaufgabe verbunden. Die Luft ist jetzt erfüllt von Gewehrfeuer – der ukrainische Angriff hat begonnen.


Koba greift eine der schweren Granaten, hält sie über die Öffnung des glatten Rohrs und lässt los. „Granate!“. Geduckt geht er einige Schritte weg von der geladene Waffe, während sich ein anderer Soldat hinter dem Mörser bereithält. „Feuer!“. Die Äste der ringsum stehenden Büsche schwingen auf und und ab, Blätter vermischt mit feinem blauen Dunst fliegen umher. Die russische Antwort folgt prompt und sie gehen vor dem herannahenden Pfeifton in Deckung. Ein paar Mal wird es in den nächsten dreißig Minuten so gehen. Dann ist es wieder still. Das Gewehrfeuer um sie herum ist wieder abgeebbt. „Der Angriff war nicht erfolgreich“, sagt Mossad, der den ukrainischen Funkverkehr verfolgt. „Sie werden jetzt versuchen, uns zu finden, und Drohnen schicken.“ Es dämmert und wir müssen ihre Stellung schnell verlassen, denn ab sofort ist mit vermehrten russischen Gegenangriffen zu rechnen.

Auf dem Weg zurück von ihrer Position halten wir nochmal auf einer Hügelkuppe und blicken ostwärts. Die Lichter Donezks kann man von hier aus nicht sehen, dafür den zarten Schimmer kleiner Explosionen am Horizont. „Kasetta, Streumunition“, sagt Koba trocken. Dann fahren wir weiter.

Text & Bilder: Jan Schneidereit

Von ihrer Position aus sind es etwa drei Kilometer bis zu den russischen Stellungen. Die meisten Gefechte finden in der Abenddämmerung oder der Nacht statt, wenn es für beide Seiten schwieriger ist, das Geschehen zu überblicken. Für Mossad und seine Einheit ist es vorteilhaft, dass der Mörser nicht unbedingt tödlich ist. Wenn eine Granate einschlägt, fliegen Schrapnelle in jede Himmelsrichtung. Das Verletzungspotenzial ist enorm. Tote können liegengelassen und später geborgen werden, ein schreiender noch lebender Soldat hingegen nicht. Er benötigt sofort Hilfe und Aufmerksamkeit. Das Chaos, das dann entsteht, nutzen sie für weitere gezieltere Attacken auf den Gegner. „Nach den NATO-Protokollen ist das illegal. Du darfst nicht auf Verletzte schießen, die evakuiert werden“, erklärt Koba.  Zu Beginn des Kriegs, schiebt er nach, hätten sie sich noch an die Regeln gehalten und den Russen die Chance gegeben, ihre Verwundeten zu retten. Da ihnen dasselbe aber von der Gegenseite nicht gestattet worden sei, würden sie es ihnen nachmachen, wie er sagt. „Es ist Krieg. Nach Butscha und Irpin gibt es keine Regeln mehr.“


Nach der Genfer Konvention genießen Verwundete und Kranke einen besonderen Schutz. Das gilt auch für Gefechtssituationen. Ist erkennbar, das jemand verletzt ist, darf nicht auf ihn geschossen werden. Auch im Krieg gibt es Regeln, die für beide Seiten gelten. Nach Darstellung der Vereinten Nationen haben russische Soldaten seit Beginn der Invasion zahlreiche dokumentierte Kriegsverbrechen begangen. Das Massaker von Butscha, bei dem dutzende Zivilisten ermordet wurden, ist nur eines davon.

Ein Surren unterbricht Koba. Alle halten inne und blicken angestrengt in den stahlblauen Himmel. Dann Entwarnung. „Es war nur eine Fliege“, beruhigt er. Alle lachen. Worüber hier jetzt gelacht werden kann, hätte tödlicher Ernst sein können. Schon den ganzen Tag versuchen die russischen Soldaten wenige Kilometer östlich von hier, ihre Stellung mit Drohnen aufzuspüren. Bisher ohne Erfolg, denn Kobas Einheit ist bereits seit fünf Monaten hier. Davor ein ebenso langer Einsatz im Süden nahe der im November vergangenen Jahres befreiten Großstadt Kherson, an deren Rückeroberung sie beteiligt waren, wie Koba sagt. Dort machte ihre Einheit die bittere Erfahrung, dass die anfängliche Planlosigkeit der russischen Armee nicht die Regel ist. „Die Russen sind sehr kreativ“, erläutert er, während Mossad auf der blauen Flamme eines Gaskochers Kaffee zubereitet. Die Sonne, die durch das dichte Blätterdach der jungen Bäume scheint, zeichnet dabei ein Tarnnetzähnliches Muster auf sein Gesicht.

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